Über das Projekt

Breitblättrige Stendelwurz, Epipactis helleborine, Bonn
Breitblättrige Stendelwurz, Epipactis helleborine, Bonn

Biodiversität ist keine Eigenheit ferner Tropenwälder, sie ist direkt vor unserer Haustür und vor unseren Augen - wenn wir sie sehen wollen. Mit der Website Chlorophil versuche ich, die vielen verschiedenen Arten, die uns umgeben, sichtbar zu machen: Pflanzen, die in Hofeinfahrten und Pflasterritzen wachsen, im städtischen Begleitgrün und am Rand des Gehwegs, in kleinen Stadtgärten und entlang der Wanderwege des Mittelrheins oder der Atlantikküste, sowie die eng mit ihnen verbundenen Wildbienen, Wespen, Fliegen und Spinnen. 

Orchideen wachsen nicht nur auf der Fensterbank oder in Naturschutzgebieten, sondern mitten in der Stadt in einer Hofeinfahrt; seltene Schenkelbienen lassen sich in einem kleinen Stadtgarten beobachten, wenn dem Gilbweiderich genügend Raum gegeben wird; Kuckuckshummeln und räuberische Fliegen führen uns parasitische Beziehungen zwischen Insektenarten vor Augen; in trockenen Sommern verwandelt sich das Ufer des Rheins in ein Tomatenfeld; die Ausbreitung auffälliger Insektenarten zeigt uns den Klimawandel; die wilden Urformen vieler Gemüsearten finden wir auf den Felsen und am Strand des Atlantiks; in Lissabons Straßen entdecken wir Pflanzen, die aus aller Welt eingewandert sind.

Sehen, was ist bedeutet für mich, Pflanzen und die mit ihnen verbundenen Arten möglichst genau erkennen und sie damit als solche und in ihrer Vielfalt würdigen zu können.  Über diese Bilder und Texte lade ich dazu ein, den genauen Blick auf die uns umgebenden Arten zu teilen: den Schritt zu verlangsamen und zu sehen, dass es sich bei der neben dem Straßenschild wachsenden Pflanze um eine wilde Möhre handelt, oder Glockenblumen und die sie besuchenden Wildbienen so lange zu betrachten und in ihren Unterschieden wahrzunehmen, bis die Zeit vergessen ist. 

Meine Begeisterung für Pflanzen hat meine Mutter Marianne geweckt - die jung bleibt, weil mit jedem Frühjahr das Versprechen der Kirschblüte und neu zu entdeckender Ragwurzwiesen einhergeht, weil jeden Sommer die Obsternte des Gartens noch üppiger als sonst ausfallen könnte und weil im Herbst das Laub gerecht werden muss. Für die Pflanzenbestimmung helfen mir Grundlagen aus einem Biologiestudium, klassische Bestimmungsbücher ebenso wie Bestimmungs-Apps und Webseiten (für mich unschlagbar: das von französischen Wissenschaftler*innen entwickelte pl@ntnet und Thomas Meyers Webseite Flora von Deutschland), ein Pflanzenbestimmungskurs im Botanischen Garten Bonn, viele wunderbare Wildkräuterwanderungen mit der Biologin Sonja Schirdewahn in Oberdollendorf und der Austausch mit anderen Planzenenthusiatinnen.

Der von Blütenpflanzen ausgehende offensichtliche Schritt zu denjenigen Lebewesen, die seit Millionen von Jahren in engster Verbindung zu ihnen stehen, den Wildbienen, hat sich mir spät eröffnet - und ich wünschte, hierfür aus meinem Studium mehr Grundlagen mitgenommen zu haben. Nun halte ich es wie mein Großvater Albert, der im Alter von über 80 Jahren anfing, kochen zu lernen: Es ist nie zu spät und macht obendrein Spaß. Ein wunderbarer Einstieg war für mich ein Wildbienenkurs bei Matthias Schindler von der Biologischen Station Bonn/Rhein-Erft - und natürlich das Werk von Paul Westrich. Angesichts von mehr als 500 Wildbienenarten in Deutschland, die auf Artebene zum Teil nur anhand von komplexen Bestimmungsschlüsseln, einem Binokular und einer Vergleichssammlung anzusprechen sind, nähere ich mich den Wildbienen in kleinen Schritten und gehe dabei, meiner ersten Leidenschaft treu bleibend, von den Pflanzen aus. Ich freue mich darüber, inzwischen einige der auf ganz bestimmte Pflanzenarten spezialisierten Bienenarten ansprechen zu können oder Bienen bestimmter Gattungen aufgrund typischer Merkmale zu erkennen.

Das theoretische Wissen um den Rückgang der Artenvielfalt und die Verarmung unserer natürlichen Umgebung wird real und erfahrbar, wenn wir uns die Zeit nehmen, hinzuschauen. Aus einem genauen Blick auf die uns umgebenden Arten entstehen Momente des Staunens und der Demut angesichts der Unendlichkeit unserer Welt. Wir hören auf damit, lebendige Wesen auf einen auf uns und unsere Zwecke gerichteten Nutzen zu reduzieren - oder so zu tun, als ob sie eher zufällig unsere Welt bevölkern. Es entsteht eine Verbindung zwischen uns und ihnen: den anderen Arten. Es sind ihre Verbindungen und ihr Netz, das uns trägt und im Dasein verankert. Noch setzen wir jedoch nicht genug Energie, Ideenreichtum und Kreativität für einen deutlichen Wandel ein. Warten wir damit noch länger, wird die Welt, unsere mit den anderen Arten geteilte Welt, vor unseren Augen ärmer, hässlicher und fragiler werden.